Anstelle des gewohnten Bildes des Gekreuzigten, mit Dornenkrone, blutenden Wundmalen an Händen, Füßen und an der Seite, nur mit einem Lendenschurz bekleidet mit übereinandergenagelten Füßen schwer am Kreuzesstamm hängend, sehen wir Jesus als noch lebenden, hoheitsvollen König, mit geöffneten Augen bis auf die Schultern reichenden Haaren, das Haupt mit einer goldenen Krone geschmückt, den Körper bedeckt mit einem bis zu den Händen und Knöcheln reichenden, blauen, mit Goldornamenten geschmückten Samtgewand; um die Hüfte einen breiten, goldenen Gürtel geknotet, dessen Enden lang herabfallen; die Füße stehen weit auseinander, wodurch die Gestalt zu schweben scheint. Diese "Göttliche Hilfe" wirkt nicht wie ein Passionbild, sondern wie ein herrschaftliches Bild; der Gekreuzigte ist mehr Christkönig als leidender Heiland am Kreuz. Solche ungewöhnliche Darstellung wird in ihrer Eigenart und Weiterentwicklung zur "Heiligen Kümmernis" erst durch die frömmigkeitsgeschichtlichen und kunsthistorischen Zusammenhänge dem heutigen Betrachter verständlich: Mit dem Sturz der Universalherrschaft des Papstes, den Glaubensspaltungen, den Reformkonzilien, der Säkularisierung der mittelalterlichen Ordnung begann mit dem 14. Jhdt. für die Geschichte der mitteleuropäischen Volksfrömmigkeit ein neues Kapitel. Es war die Zeit, in der das Volk eine starke religiöse Eigenkraft entfaltete und die Frömmigkeit seiner Zeit wesentlich mitgestaltete. Besonders deutlich wurde dies in der wachsenden Heiligenverehrung, wo das Volk die Heiligen gleichsam in seinen Alltag einsetzte, ihnen Amt und Fürsorge für alle leiblichen und seelischen Nöte übertrug und in ihnen bewährte Nothelfer sah. Zahlreiche Kirchen und Kapellen wurden ihnen gewidmet. In unserem Raum entstand im Jahre 1448 die erste Wallfahrtskirche zu den "14 Heiligen Nothelfern" in Vierzehnheiligen/Staffelstein.

Doch die höchste Verehrung galt dem Erlöser der Menschheit, der göttlichen Hilfe, Jesus Christus, dessen Leben und Wirken in immer neuen Darstellungen Ausdruck fand: Geburt des Kindes im Stall zu Betlehem, Jesuskind auf dem Arm des Nährvaters Josef bis zur Ölbergszene, zum Schmerzensmann an der Geißelsäule (Wies-Kirche) und zum Gekreuzigten und Auferstandenen.
Das Bildmotiv unserer vorliegenden "Göttlichen Hilfe" geht auf ein im Mittelalter in Nachbildungen weit verbreitetes Kreuz von Lucca in Mittelitalien zurück, dem sogenannten "Volto Santo" (="Heiliges Antlitz"), der als wahres Bildnis Christi von der Hand des Nicodemus galt. (Der Schriftgelehrte Nicodemus kannte Jesus und bestattete ihn mit Hilfe des Joseph von Arimathea, Evgl. Joh.19/38-4O).
Um dieses alte Holzbild des bärtigen, mit umgürtetem Mantel bekleideten Gekreuzigten entwickelte sich eine Wallfahrt, die im Abendland bald so berühmt war, daß Lucca mit seinem Gnadenbild des "Volto Santo" zu den großen Wallfahrtsorten des Mittelalters wurde.
Durch diese Wallfahrten wurde der "Volto Santo" in vielen Nachbildungen - abhängig vom Geschick der Künstler - weit über das Abendland verbreitet und kam durch Wallfahrer und Händler auch nach Holland. Dort setzte nun um ein Bild des Erlösers von Lucca, dessen unverständliches Aussehen die Phantasie der Gläubigen entzündete, eine neue Legendenbildung ein.
Während im Mittelalter der Zusammenhang mit dem Vorbild von Lucca noch selbstverständlich war, wurde mit dem Nachlassen des Italienhandels und dem Rückgang der Wallfahrt die Eigenart dieser Christusdarstellung nicht mehr verstanden. Man deutete die langen, reich verzierten Gewänder als Frauenkleider, das wallende Haar als Frauenhaar und die mädchenhaften Gesichtszüge des holländischen " Volto Santo” als weiblichen Typus. Nachbildungen im Laufe der Zeit haben ständig Veränderungen auf eine weibliche Gestalt hin vorgenommen und so entwickelte die volkstümliche Überlieferung zu diesen Bildern die Legende der "Heiligen Kümmernis" - einer weiblichen Figur am Kreuze:
Die schöne Tochter eines heidnischen Königs in Portugal hatte sich zum christlichen Glauben bekannt. Als sie ihr Vater mit einem heidnischen Fürsten von Sizilien verheiraten wollte, weigerte sie sich. Um sie umzustimmen, ließ sie der Vater foltern und in den Kerker werfen. St.- Kummernus - so hieß die spätere Heilige - jedoch blieb stark und betete zu Jesus, er möge sie so verunstalten, daß kein Mann sie mehr zum Weibe begehre. Jesus erhörte sie und ließ ihr einen langen Bart wachsen. Der Vater war darüber so erzürnt, daß er seine Tochter ans Kreuz schlagen ließ.

St. Kummernus lebte noch drei Tage, predigte und lobte Gott und starb erst, als auch ihr Vater sich bekehrt hatte. Zur Sühne erbaute der Vater eine Kirche, in welcher er das Standbild seiner Tochter aufstellte.
Diese Legende wurde auch mit dem Namen der vermeintlichen Heiligen verbunden, in Westeuropa vor allem als Wilgefortis (lat: virgo = Jungfrau; fortis = tapfer, also "tapfere Jungfrau"), in Süddeutschland und im Alpenraum wurde sie als St. Kümmernis verehrt. Danach lebte die dem "Volto Santo" von Lucca zukommende ursprüngliche Bezeichnung "Die Göttliche Hilfe" fort und blieb für die vorliegende, eigenartige Christusdarstellung erhalten.
Zahlreiche Kirchen und Kapellen mit "Kümmernis-" oder " Wilgefortis - " Darstellungen (als Bilder, Holzschnitte, Votivtafeln) wurden seit dem 15. Jhdt. Ziel von Wallfahrten. Mittelpunkt dieser Wallfahrten wurde Neufahrn bei Freising, wo auf einem barocken, goldenen Prunkaltar das berühmte Kümmerniskreuz steht.
Als ein wesentliches Zeugnis der "St. Kümmernis"-Verehrung in unserer Gegend kann das Tafelbild in der Pfarrkirche zu Eltersdorf / Erlangen von 1513 angesehen werden. Neben der gekreuzigten Frauenfigur, dem als Vorlage ein altes "Volto-Santo"-Bild gedient hat, wird auf vier kleineren Legendenbildern die niederländische Legende der St. Kümmernis / Wildgefortis szenisch erzählt.
Unsere vorliegende Christusdarstellung der "Göttlichen Hilfe" aber muß als echte, unveränderte Nachbildung des Lucca Kreuzes bezeichnet werden, die immer als Erlöserbild verehrt wurde und deren Verehrung von Bamberg aus eine starke Ausstrahlung bewies.
Als Zeugnisse für ihre Verbreitung im fränkischen Raum sind allein im bambergischen kirchlichen Bereich folgende Abbildungen gesichert : Frensdorf , Felsenkapelle Gügel bei Scheßlitz, Kirschletten, Memmelsdorf, Seußling, Straßgiech, Unterneuses bei Burgebrach und Waischenfeld.
Auch in Höchstadt findet sich eine weitere "Göttliche Hilfe". An der Straßenseite des Hauses Bamberger-Str. 1 , Blumenhaus Mader, hängt über der Haustür in einem in die Wand eingelassenen, verglasten Holzkästchen das ca. 7O cm hohe, leicht beschädigte Holzfigürchen einer "Göttlichen Hilfe" aus der Mitte des 18. Jhdts.